Programm Herbst 2016

Mit grosser Vorfreude möchte das SJO Ihnen, liebe Besucher, das Herbstprogramm 2016 samt Programmtext von Iris Eggenschwiler vorstellen:

Franz Schubert (1797–1828): Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, D 759 «Unvollendete»

Paul Creston (1906–1985): Concertino for Marimba and Orchestra op. 21

Antonín Dvořák (1841–1904): Sinfonie Nr. 9 in e-Moll op. 95 «Aus der Neuen Welt»

 

«Aus einer andern Welt»

GrossARTig bedeutet – gemäss dem gegenwärtigen Eintrag auf Duden online – «durch seine ungewöhnliche, bedeutende Art beeindruckend». Einzigartig, anders, eindrucksvoll sind auch die Werke, die Ihnen das Siggenthaler Jugendorchester präsentiert. Gestern wie heute lassen sie das Publikum in fremde Welten eintauchen, Vergangenes erinnern, Unbekanntes entdecken, Künftiges erahnen.
Eine noch unentdeckte, aber dennoch vertraute Welt tat sich dem gespannten Wiener Konzertpublikum auf, als am 17. Dezember 1865 die ersten Takte einer bislang unbekannten Sinfonie von Franz Schubert erklangen. Schuberts Freund Anselm Hüttenbrenner hatte das Manuskript rund 40 Jahre unter Verschluss gehalten, bevor der Kapellmeister Johann von Werbeck das Werk schliesslich zur Uraufführung brachte. Dies bedeutete selbst im verwöhnten Wiener Konzertbetrieb eine Sensation. Der Kritiker Eduard Hanslick berichtete: «Wenn nach ein paar einleitenden Tacten Clarinette und Oboe einstimmig ihren süßen Gesang über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anstimmen, da kennt auch jedes Kind den Componisten, und der halbunterdrückte Ausruf ‚Schubert‘ summt flüsternd durch den Saal. Er ist noch kaum eingetreten, aber es ist, als kennte man ihn am Tritt, an seiner Art, die Thürklinke zu öffnen. Erklingt nun gar auf jenen sehnsüchtigen Mollgesang das contrastierende G-Dur-Thema der Violincelle, ein reizender Liedsatz von fast ländlerartiger Behaglichkeit, da jauchst jede Brust, als stände Er nach langer Entfernung leibhaftig mitten unter uns.»
Hanslick berührte damit einen wichtigen Punkt: Die «Unvollendete» aus dem Jahr 1822 ist wahrscheinlich Schuberts erste Sinfonie, die nach dem Komponisten klingt, den wir von den Liedern, Kammermusikwerken und Klaviersonaten kennen. Zum ersten Mal war es ihm gelungen, seine Ästhetik des Gesanglichen, Weitläufigen mit der von Beethoven herkommenden Monumentalität der Sinfonie zu vereinen. Weshalb Schubert das Werk unvollendet liess, also zu den beiden überlieferten Sätzen keinen dritten und vierten Satz hinzufügte, ist unklar. Vielleicht blieb die säuberliche Reinschrift aus Zeitgründen liegen, vielleicht überzeugten den Komponisten die Möglichkeiten zur Fortsetzung nicht (immerhin existieren Skizzen zu einem dritten Satz), oder er verbuchte das Fragment sogar als gescheitertes Experiment.

Eine neue klangliche Welt kreierte der New Yorker Paul Creston, indem er 1940 als Erster ein Solokonzert für die besonders in der Unterhaltungsmusik beliebte Marimba komponierte. Die Idee dazu lieferte Frederique Petrides, die – damals noch mehr als heute – als Dirigentin einen untypischen Beruf ausübte. Frauen waren aus dem professionellen Orchesterbetrieb weitgehend ausgeschlossen, es sei denn, sie waren Harfenistinnen. Die übrigen Musikstudentinnen wurden typischerweise Sängerinnen, Lehrerinnen, Kammermusikerinnen oder schafften, in selteneren Fällen, als Violin- oder Klaviervirtuosinnen den Sprung auf die grosse Konzertbühne. Als Gegenbewegung formierten sich nach dem Ersten Weltkrieg verschiedene reine Frauenorchester, die dank den gut ausgebildeten Mitgliedern häufig ein professionelles Niveau erreichten. Auch Petrides gründete 1933 ihr eigenes Frauenensemble, die Orchestrette Classique, und schuf sich damit die Möglichkeit, regelmässig aufzutreten. Ihre ausgezeichnete Perkussionistin Ruth Stuber Jeanne, für die Petrides das Werk bestellt hatte, brachte das Konzert 1940 in der Carnegie Chamber Music Hall zur Uraufführung. Schon bald darauf verschwanden die meisten Frauenorchester wieder: Ein Teil der Instrumentalistinnen ersetzte nun die für den Zweiten Weltkrieg eingezogenen Musiker der traditionellen Symphonieorchester.

Antonín Dvořáks neunte Sinfonie trägt die «Neue Welt» bereits in ihrem Titel. 1891 war der Komponist als Direktor an das neu gegründete New Yorker Konservatorium berufen worden, um Amerika zu einer eigenständigen Nationalmusik zu verhelfen. Dass dieser Auftrag einem Europäer zufiel, ist nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheint: Immerhin galt Dvořák damals als der böhmische Komponist schlechthin, weshalb sollte er nicht auch ein genuin amerikanisches Musikidiom aufspüren und kompositorisch verarbeiten können? Tatsächlich studierte Dvořák die Volksmusik der Afroamerikaner und Indianer und komponierte verschiedene Werke in seinem neu geschaffenen «amerikanischen» Ton, darunter seine neunte Sinfonie von 1893. Pentatonik, erniedrigte Leittöne und andere Folklorismen prägen das Werk. Die Neue Welt Amerika eröffnete Dvořák sozusagen neue musikalische Welten. Das erkannte auch der schon erwähnte Kritikerpapst Hanslick: «[M]an wird […] sofort Motive heraushören, die von Dvořáks früherer Arbeit weit abstehen, wirklich, wie der Titel besagt, aus einer andern Welt sind.» Spezifisch amerikanisch sind solche Stilmittel jedoch nicht, sie finden sich in nahezu jeder Volksmusik der Welt. Dass das Werk als amerikanisch zu hören ist, scheint eine Konvention, vielleicht sogar eine Konstruktion zu sein. Dennoch verhalfen sie Dvořák zu einer Erweiterung der Tonsprache, ohne die seine sinfonischen Dichtungen und späten Opern nicht denkbar sind.

Iris Eggenschwiler

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